Naum Gabo
Naum Gabo, geboren als Naum Neemia Pevsner am 5. August 1890 in Brjansk, Russland, prägte mit seinen Skulpturen die Kunst des 20. Jahrhunderts und wurde zu einem der einflussreichsten Vertreter des Konstruktivismus. Er verband geometrische Abstraktion mit einer neuen Auffassung von Raum und Bewegung, die bis dahin in der Bildhauerei kaum erforscht war. Seine Werke, die oft aus transparenten Materialien bestanden, schufen eine neue Dimension in der Skulptur. Indem er die Masse auflöste und Volumen nur durch aneinandergereihte Flächen oder Linien entstehen ließ, revolutionierte er die Vorstellung von Skulptur. Sein Schaffen wurde von technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst, die er bereits während seines Studiums erwarb.
Wichtige Werke und Ausstellungen
- Konstruktiver Kopf Nr. 2 (Constructed Head No. 2, 1916) – Tate Gallery, London
- Kinetische Skulptur (Stehende Welle) (Kinetic Sculpture (Standing Wave), 1920) – Museum of Modern Art, New York
- Lineare Konstruktion im Raum Nr. 1 (Linear Construction in Space No. 1, 1942) – National Gallery of Art, Washington, D.C.
- Spiralthema (Spiral Theme, 1941) – Solomon R. Guggenheim Museum, New York
- Konstruktie (Constructie, 1957) – Vor dem Bijenkorf-Kaufhaus, Rotterdam
- Revolvierende Torsion (Revolving Torsion, 1972) – Vor dem St Thomas‘ Hospital, London
- Säule (Column, 1923) – Kunstmuseum Basel, Schweiz
- Linearer Torso (Linear Torso, 1950) – Harvard Art Museums, Cambridge, Massachusetts
- Kopf einer Frau (Head of a Woman, 1917-20) – Museum of Modern Art, New York
- Konstruktiver Kopf Nr. 1 (Constructed Head No. 1, 1915) – Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
Künstlerische Entwicklung
Frühe Karriere und Ausbildung
Naum Gabo wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. Sein Vater, Boris Pevsner, war Ingenieur und Besitzer einer Metallfabrik, wodurch er früh mit technischen Fragen in Berührung kam. Während seiner Jugend erlebte er die politischen Unruhen des Russischen Kaiserreichs, die ihn prägten. Schon früh zeigte er künstlerisches Interesse, experimentierte mit Materialien und entwickelte ein tiefes Verständnis für Struktur und Raum. Nachdem er die Schule in Brjansk abgeschlossen hatte, begann er 1910 ein Studium der Medizin in Deutschland. Schnell erkannte er jedoch, dass ihn nicht die Heilkunst, sondern die Wissenschaft und Philosophie der Wahrnehmung interessierten. Deshalb wechselte er an die Universität München, wo er unter anderem Physik und Ingenieurwissenschaften studierte. Nebenbei besuchte er Vorlesungen zur Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin. Hier begegnete er auch Wassily Kandinsky, dessen Ideen zur abstrakten Kunst einen tiefen Eindruck auf ihn hinterließen.
Wichtige Stationen und Werke
Frühe Experimente und der Übergang zur Abstraktion
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog Gabo nach Oslo, wo er sich erstmals intensiv mit abstrakten Formen auseinandersetzte. Werke wie Konstruktiver Kopf Nr. 1 markieren diese Phase und zeigen eine Hinwendung zu geometrisch aufgebauten Strukturen, die anstelle massiver Körperflächen auf Transparenz und Raumwirkung setzen. Diese frühen Arbeiten gelten als Vorläufer seines späteren konstruktivistischen Ansatzes.
Rückkehr nach Russland und das Realistische Manifest
Nach der Oktoberrevolution kehrte Gabo nach Russland zurück und wurde Teil der sich formierenden konstruktivistischen Bewegung. Gemeinsam mit seinem Bruder Antoine Pevsner verfasste er 1920 das Realistische Manifest, das eine radikale Neuorientierung der Skulptur forderte. Statt statischer Masse sollte der Raum selbst zum gestalterischen Mittel werden – Bewegung, Licht und Struktur traten an die Stelle traditioneller Körperlichkeit.
Vernetzung in Europa: Berlin, Paris und die Circle-Gruppe
1922 emigrierte Gabo zunächst nach Berlin und nahm an der Ersten Russischen Kunstausstellung teil. Hier knüpfte er Kontakte zur Bauhaus-Szene und diskutierte mit Künstlern wie László Moholy-Nagy über die Verbindung von Kunst, Technik und Material. Mitte der 1930er-Jahre ließ er sich in London nieder, wo er gemeinsam mit Barbara Hepworth und Ben Nicholson die Gruppe Circle gründete – ein Netzwerk, das den Dialog zwischen abstrakter Kunst und moderner Architektur förderte.
Naum Gabo in den USA: Skulptur im öffentlichen Raum
Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte Gabo in die Vereinigten Staaten aus. Dort lehrte er als Architekt an der Harvard University und erhielt zahlreiche Aufträge für großformatige Skulpturen. Seine Werke aus dieser Zeit verbinden technische Präzision mit einer poetischen Auffassung von Raum und Bewegung – ein Ansatz, der ihn zu einem der prägenden Vertreter des Konstruktivismus im 20. Jahrhundert machte.
Stilmerkmale
- Geometrische Abstraktion: Klar definierte Formen ohne klassische plastische Masse.
- Transparenz: Nutzung von Plexiglas und Nylon zur Erzeugung von Leichtigkeit.
- Dynamik: Einbindung von kinetischen Elementen zur Darstellung von Bewegung.
- Raumdefinition: Der Raum als gleichberechtigtes Element der Skulptur.
- Innovative Materialien: Einsatz von Kunststoffen und industriellen Werkstoffen.
Techniken und Materialien
Gabo nutzte Materialien, die zuvor in der Kunst ungewöhnlich waren, darunter transparente Kunststoffe, Metall, Glas und Nylon. Durch seine technischen Kenntnisse war er in der Lage, Konstruktionen zu schaffen, die Leichtigkeit vermittelten und dennoch stabil waren. Besonders seine kinetischen Skulpturen zeigten die enge Verbindung zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie.
Gabos Einfluss und Vermächtnis
Sein Einfluss reicht weit über den Konstruktivismus hinaus. Er beeinflusste Künstler wie Henry Moore, Barbara Hepworth und Richard Lippold, die seine Ideen zu Raum und Transparenz weiterentwickelten. Auch die kinetische Kunst von Alexander Calder und Jean Tinguely steht in direkter Verbindung zu Gabos Arbeiten. Seine Werke sind heute in den bedeutendsten Museen der Welt zu finden.
Naum Gabo: Die wichtigsten Fakten
- Geboren am 5. August 1890 in Brjansk, Russland.
- Studierte Naturwissenschaften, Technik und Kunstgeschichte in München.
- Entwickelte 1915 die ersten konstruktivistischen Skulpturen in Oslo.
- Verfasste 1920 das „Realistische Manifest“ gemeinsam mit Antoine Pevsner.
- War Mitglied der Bauhaus- und De Stijl-Bewegung.
- Emigrierte nach England und später in die USA.
- Pionier der kinetischen Skulptur.
Naum Gabo veränderte mit seiner Vorstellung von Raum und Bewegung die Skulptur grundlegend. Er schuf Werke, die nicht durch Masse, sondern durch Struktur, Linie und Transparenz wirken. Seine Arbeiten verbinden technische Präzision mit einer fast meditativen Leichtigkeit. Naum Gabo starb am 23. August 1977 in Waterbury, Connecticut – im Alter von 87 Jahren.