Leonora Carrington
Leonora Carrington, geboren am 6. April 1917 in Clayton-le-Woods, Lancashire, England, war eine britisch-mexikanische surrealistische Malerin und Schriftstellerin, die sich von gesellschaftlichen Zwängen nicht beugen ließ. Sie wuchs in einem wohlhabenden Elternhaus auf, dessen Strenge und rigide Strukturen in krassem Gegensatz zu ihrer inneren Welt standen. Schon als Kind zeigte sie eine Faszination für Mythen, Fabelwesen und das Irrationale, das sich später tief in ihre Kunst eingrub. Der Großteil ihres Erwachsenenlebens führte sie nach Mexiko-Stadt, wo sie ihre unverwechselbare Bildsprache weiterentwickelte. Als eine der letzten Vertreterinnen der surrealistischen Bewegung der 1930er Jahre entwickelte sie eine eigenständige, von Mystik und persönlichen Erfahrungen geprägte künstlerische Handschrift. Sie war nicht nur Malerin, sondern auch eine bedeutende Schriftstellerin, die sich in ihren Erzählungen und Dramen mit der weiblichen Identität, mit Freiheit und mit magischen Welten auseinandersetzte.
Wichtige Werke und Ausstellungen
- Selbstporträt (Gasthof zum Morgengrauen) (Self-Portrait (Inn of the Dawn Horse), 1937–1938) – Metropolitan Museum of Art, New York
- Das Mahl des Lord Kerzenleuchter (The Meal of Lord Candlestick, 1938) – Metropolitan Museum of Art, New York
- Porträt von Max Ernst (Portrait of Max Ernst, ca. 1939) – Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh
- Die Versuchung des heiligen Antonius (The Temptation of St. Anthony, 1945) – Privatbesitz
- Der Küchengarten auf der Insel (The Kitchen Garden on the Eyot, 1946) – San Francisco Museum of Modern Art, San Francisco
- Die Riesin (Die Wächterin des Eis) (The Giantess (The Guardian of the Egg), 1947) – Privatbesitz
- Die alten Jungfern (The Old Maids, 1947) – Sainsbury Centre for Visual Arts, Norwich
- Und dann sahen wir die Tochter des Minotaurus (And Then We Saw the Daughter of the Minotaur, 1953) – Museum of Modern Art, New York
- Der Vogelbad (The Bird Bath, 1974) – Privatbesitz
- Gatomaquia (2009) – Museo Leonora Carrington, Mexiko
Künstlerische Entwicklung
Frühe Karriere und Ausbildung
Carringtons künstlerischer Werdegang begann in einem Umfeld, das ihr Talent eher als Exzentrik denn als Bestimmung betrachtete. Ihr Vater, ein reicher Textilfabrikant, hätte sie lieber als Debütantin in die Londoner High Society eingeführt, doch sie selbst folgte unbeirrbar ihrer Leidenschaft für die Kunst. Sie wurde aus mehreren katholischen Internaten verwiesen – nicht wegen mangelnder Intelligenz, sondern wegen ihres widerständigen Geistes. Kunst wurde ihr Zufluchtsort, eine Welt, in der sie sich der Kontrolle ihres Umfeldes entzog.
1936 schrieb sie sich an der Academy von Amédée Ozenfant in London ein, einem Zentrum moderner Kunsttheorien. Dort begann sie, sich intensiv mit der surrealistischen Bildsprache auseinanderzusetzen. Ihre Begegnung mit dem deutschen Künstler Max Ernst im Jahr 1937 in Paris war ein Wendepunkt in ihrer frühen Karriere. Die beiden verband eine stürmische Beziehung, die nicht nur persönlicher, sondern auch künstlerischer Natur war. Gemeinsam lebten sie in einem abgelegenen Bauernhaus in Südfrankreich, wo sie sich gegenseitig beeinflussten – sie brachte eine spielerische, intuitive Herangehensweise in sein Werk ein, während er ihr den Zugang zu den surrealistischen Kreisen eröffnete.
Wichtige Stationen und Werke
Die Idylle in Frankreich fand 1940 ein jähes Ende, als Ernst von den Nazis als „entarteter Künstler“ inhaftiert wurde. Carringtons Welt zerbrach. Sie floh nach Spanien, doch ihre geistige Verfassung verschlechterte sich dramatisch. Ihr Vater ließ sie in eine psychiatrische Anstalt einweisen, wo sie brutalen Behandlungen ausgesetzt war. Diese Erfahrung hinterließ tiefe Spuren, die sie später in ihrem autobiografischen Werk „Unten“ (En Bas) verarbeitete.
Die Rettung kam in Form des mexikanischen Diplomaten Renato Leduc, den sie in Lissabon heiratete, um Mexiko zu erreichen. Dort begann eine neue Phase ihres Schaffens. Sie freundete sich mit Künstlern wie Remedios Varo und Kati Horna an und tauchte in die reiche Symbolwelt der mexikanischen Kultur ein. Ihre Werke wurden komplexer, durchzogen von Elementen der Alchemie, keltischen Mythen und präkolumbianischen Traditionen.
Carringtons literarisches Werk, darunter „Das Hörrohr“, verband surrealistische Bildwelten mit gesellschaftskritischer Schärfe. Ihre Skulpturen, wie die monumentale „Cocodrilo“, sind heute fester Bestandteil des mexikanischen Stadtbildes.
Stilmerkmale
- Detailreichtum: Ihre Werke sind voller filigraner Details, die erst bei genauer Betrachtung ihre Bedeutung entfalten.
- Magische Symbolik: Sie verwendete alchemistische Zeichen, Tarot-Motive und Fabelwesen, um verborgene Wahrheiten darzustellen.
- Feministische Perspektive: In ihren Werken treten oft selbstbewusste Frauenfiguren auf, die sich der patriarchalen Ordnung entziehen.
- Traumlogik: Ihre Bildkompositionen folgen keiner rationalen Ordnung, sondern spiegeln das Unterbewusstsein wider.
- Erzählerische Tiefe: Jedes Bild wirkt wie eine Szene aus einer Geschichte, deren Anfang und Ende sich der Interpretation des Betrachters entziehen.
Techniken und Materialien
Carrington arbeitete hauptsächlich mit Öl auf Leinwand und entwickelte eine raffinierte Lasurtechnik, um ihre geheimnisvollen Farbtiefen zu erzeugen. Neben der Malerei fertigte sie auch Skulpturen aus Bronze und Holz, die ebenso detailreich und rätselhaft sind wie ihre Gemälde.
Carringtons Einfluss und Vermächtnis
Ihr Werk beeinflusste zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, darunter die surrealistische Malerin Remedios Varo, die britische Künstlerin Dorothea Tanning und die zeitgenössische Malerin Cecily Brown. Auch Filmemacher wie Guillermo del Toro beziehen sich auf ihre traumartigen Bildwelten. In der feministischen Kunstszene gilt sie als eine der ersten Künstlerinnen, die den Surrealismus aus weiblicher Perspektive umdeuteten.
Leonora Carrington: Die wichtigsten Fakten
- Geboren am 6. April 1917 in Lancashire, England.
- Britisch-mexikanische surrealistische Malerin und Schriftstellerin.
- Früh von den surrealistischen Kreisen in Paris beeinflusst.
- Überlebte psychiatrische Internierung und emigrierte nach Mexiko.
- Enge Freundschaft mit Remedios Varo und Kati Horna.
- Einfluss auf Künstler wie Dorothea Tanning und Guillermo del Toro.
- Verstarb am 25. Mai 2011 in Mexiko-Stadt im Alter von 94 Jahren.
Carringtons Kunst war ein Akt der Rebellion, eine poetische Weigerung, sich den Regeln der Gesellschaft zu unterwerfen. Sie schuf eine Welt, in der Frauen sich selbst definieren, in der Magie real ist und in der das Unbewusste eine Form bekommt. Ihre Werke werden weiterhin betrachtet, analysiert und bewundert – als Fenster in eine Wirklichkeit, die sich erst im Traum wirklich entfaltet.